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Engagiert, vernetzt und mit Mut zur Improvisation
Von den Anfängen der Regionalstelle in Tübingen
Ulrike Schneck hat ab Herbst 2014 die Regionalstelle in Tübingen aufgebaut und leitete diese bis Herbst 2018. Seitdem ist sie als Fachliche Leitung und Vorstand in der Hauptstelle in Stuttgart tätig.
Zehn Jahre Regionalstelle Tübingen, welche Erinnerung schießt dir als erstes durch den Kopf?
Das kleine Häuschen in der Neckarhalde 66, in dem mein Kollege Peter Scholz und ich gemeinsam die Regionalstelle aufgebaut haben. Mein Büro hatte einen direkten Ausgang in den Garten, und manchmal haben wir unsere Besprechungen oder einzelne Beratungsgespräche sogar draußen gemacht. Sehr gut erinnere ich mich auch noch an die Eröffnungsfeier am 3. Februar 2015 mit Grußworten der Schirmherren von Refugio Stuttgart, Weihbischof Johannes Kreidler und Landesbischof Eberhardt Renz, sowie von Frau Dr. Stetter-Karp, die damals das Bischöfliche Ordinariat vertrat. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart hat eine sehr bedeutende Rolle gespielt, da sie über den Zweckerfüllungsfonds Flüchtlingshilfen den Aufbau der Regionalstelle finanziert hat und uns die ersten Räumlichkeiten vermietet hat.
Was ist das Besondere daran, eine Beratungsstelle neu aufzubauen? Was hat am meisten Spaß gemacht, was war überraschend, was herausfordernd?
Es ist einerseits sehr viel Arbeit, etwas neu aufzubauen, aber es gibt auch viel Gestaltungsspielraum. Der Start der Regionalstelle Tübingen fiel in eine Zeit, als viele Geflüchtete in Deutschland ankamen und das Thema stark in der öffentlichen Wahrnehmung präsent wurde. Dies war zu Beginn noch gar nicht absehbar gewesen, hat aber stark dazu beigetragen, dass das Projekt eine so rasante Dynamik entwickelte. Mein Kollege und ich haben uns sehr schnell in die Klientenarbeit gestürzt, weil wir den großen Bedarf gesehen haben. Wir sind damals mit einer Warteliste gestartet, die uns von der Hauptstelle in Stuttgart übergeben wurde. Das waren über fünfzig Geflüchtete, die aus dem Raum Tübingen/Reutlingen/Zollernalb kamen und teils schon seit über einem Jahr auf einen Termin gewartet hatten. Gleichzeitig hatten wir erst ab Februar 2015 Telefon und PCs – es war also viel Improvisation und Flexibilität gefragt.
Wie haben die Sprachmittler:innen den Weg zu euch gefunden?
Ein kleiner Stamm von Sprachmittler:innen stand aus dem Stuttgarter Pool auch für Tübingen zur Verfügung. Da vor allem mein Kollege in Tübingen gut vernetzt war, kamen viele über Mund-zu-Mund-Propaganda zu uns. Peter Scholz führte dann im ersten Jahr gleich zwei Schulungen für neue Sprachmittler:innen durch, so standen zum Ende des ersten Projektjahres bereits 38 Sprachmittler:innen für 17 Sprachen zur Verfügung.
Wer waren die ersten Netzwerkpartner und wie hat sich das Netzwerk entwickelt?
Unser erstes Kooperationsgespräch haben wir mit dem Landkreis Tübingen, Abteilung Soziales, geführt, um uns den Flüchtlingssozialarbeiter:innen vorzustellen. Dann arbeiteten wir regelmäßig im „Arbeitskreis Gesundheit“ mit, dieser entstand aus dem Ende 2014 von der Stadt Tübingen erstmalig abgehaltenen „Flüchtlingsgipfel“. Ebenfalls im ersten Jahr riefen wir ein regelmäßiges Austauschtreffen ins Leben, die „Plattform Trauma und Flucht“. Diese gab einmal monatlich die Gelegenheit, sich mit anderen Therapeut:innen und Ärzt:innen, aber auch Berater/innen aus Beratungsstellen oder in freier Praxis, intervisorisch über die Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten auszutauschen und Kontakt untereinander aufzunehmen. Dieses Treffen fand seit April 2015 in der Praxis einer kooperierenden Therapeutin in Tübingen statt.
Gab es besondere Projekte?
Eine Besonderheit der Regionalstelle war in den ersten Jahren Gruppenangeboten in sogenannten „Mobilen Teams“. Diese psychosozialen Angebote wurden in verschiedenen Orten der Region durchgeführt, um Anfahrtswege der Klienten zu vermeiden und möglichst vielen Personen gleichzeitig einen Zugang zu einer Unterstützung von Refugio Stuttgart zu ermöglichen. Die erste Gruppe fand in Kooperation mit der Caritas Zollern für Teilnehmer aus Gambia in Hechingen statt. Kurz darauf kam ein weiteres Projekt hinzu: Das Land Baden-Württemberg hatte beschlossen, im Jahr 2015 ein Sonderkontingent von yezidischen Frauen und Kindern aus dem Nordirak aufzunehmen, die auf alle Landkreise verteilt wurden. in Tübingen wurde die Gruppe direkt in unserer Nachbarschaft untergebracht, und gemeinsam mit drei Kolleginnen aus der Uniklinik boten wir eine therapeutische Gruppe für die Frauen an.
Was ist das pntf? Wie kam es dazu?
Das pntf ist das „Psychosoziale Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge“, das wir gemeinsam mit dem Trägerverein Freies Kinderhaus in Nürtingen ins Leben gerufen haben. Die Zusammenarbeit mit verschiedenen, in der Alten Seegrasspinnerei aktiven Initiativen hatte schon eine lange Vorgeschichte. Im Zuge der vielen ankommenden Geflüchteten im Jahr 2015 entstand der Wunsch nach einem eigenen Angebot vor Ort. Das Ergebnis war eine Anlaufstelle in Form einer regionalen Sprechstunde in der Alten Seegrasspinnerei, die wir ab Mitte 2016 angeboten haben. So hatten wir also bereits ein Jahr nach Start der Regionalstelle ein weiteres Pilotprojekt hinzugenommen. Ende 2019 kam das Projekt der regionalen Sprechstunde in Nürtingen zum Abschluss, das pntf wurde komplett an den Trägerverein Freies Kinderhaus übergeben.
Die Regionalstelle ist heute fester Bestandteil der Versorgungsstruktur für traumatisierte Geflüchtete in Baden-Württemberg. Wo siehst du die größte Herausforderung?
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es sehr bemerkenswert ist, dass aus diesem Projekt ein Angebot mit einer fest etablierten hauptamtlichen Struktur werden konnte. Tübingen hat sich als ein sehr guter Standort erwiesen. Wir sind gut in der Region vernetzt, konnten tolle Hauptamtliche, Sprachmittler:innen und Ehrenamtliche für die Arbeit gewinnen, viele unserer Mitglieder und Spender:innen kommen aus Tübingen und Umgebung. Die finanzielle und politische Unterstützung durch die Diözese Rottenburg-Stuttgart, die Landkreise Tübingen, Reutlingen und Zollernalb und die Landesregierung ermöglichen es uns, ein gutes Angebot an psychosozialer Beratung und Therapie vorzuhalten. Die größte Herausforderung sehe ich in der Tat aktuell darin, dass die gesellschaftliche Akzeptanz von Geflüchteten deutlich zurückzugehen scheint, insbesondere in den letzten beiden Jahren. Das wirkt sich stark auf die Situation der Geflüchteten aus, da sie sich nicht mehr so eindeutig willkommen fühlen. Wir haben auch vermehrt Klient:innen, die von rassistischen Übergriffen berichten oder unter der Erfahrung von Diskriminierung in Deutschland leiden.
Wenn ich zum Jubiläum einen Wunsch frei hätte…
… dann wäre es der, dass Mitmenschlichkeit und Menschenrechte wieder die Überhand gewinnen.
14.10.2024