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Jahresrückblick 2023: Fluchtursache Krieg
„Obwohl wir jetzt schon seit Monaten hier sind und alles ja eigentlich ganz gut läuft, aber der Krieg ist immer mit uns.“ Seit Beginn des Ukraine-Krieges werden wir vermehrt gefragt, ob wir nun bei Refugio Stuttgart viele Kriegsflüchtlinge betreuen würden. Tatsächlich haben die meisten Klientinnen und Klienten, die in den letzten 22 Jahren wegen Traumafolgestörungen in unseren Beratungsstellen in Behandlung waren, Kriege und bewaffnete Konflikte erlebt.
Das obige Zitat stammt aus dem Jahr 2016 von einer Klientin aus Syrien, könnte aber genauso gut von einer Geflüchteten aus Afghanistan, Sri Lanka oder Kamerun stammen. Im Krieg und bei bewaffneten Konflikten sind Menschen allen Formen von Gewalt ausgesetzt. Sie erleben Folter, Gefangenschaft, Bombenangriffe, brennende Häuser oder Selbstmordattentate. Sie werden Zeuge des gewaltsamen Todes naher Angehöriger, oder machen eigene Erfahrungen der Todesnähe. Insbesondere Kinder leiden oft lebenslang an den Folgen, da kein grundlegendes Gefühl von Sicherheit ausgebildet werden kann und ihre Persönlichkeitsentwicklung durch die frühen Traumatisierungen schwer beeinträchtigt wird.
Konfliktländer Afghanistan und Türkei
Die zahlenmäßig größte Gruppe unserer Klientinnen und Klienten kommt seit mehreren Jahren aus Afghanistan, das den letzten Platz auf dem Weltfriedens-Index belegt. Sie sind vor der Gewalt und Bedrohungen der Taliban geflohen. Viele haben selbst Übergriffe durch die Taliban erlebt, ihre Familien haben Drohungen erhalten, Angehörige wurden verschleppt oder umgebracht. Angehörige der Volksgruppe der Hazara sind besonders schweren Übergriffen ausgesetzt, sie berichteten schon vor Jahren von grausamen Foltermethoden und Massakern. An zweiter Stelle stehen Geflüchtete aus der Osttürkei, deren Zahl kontinuierlich zunimmt: dort werden Angehörige der kurdischen Bevölkerungsgruppe willkürlich festgenommen, verschwinden, werden gefoltert. Ganze Familien werden so lange bedroht und drangsaliert, bis sie fliehen. Einige schaffen es nach Deutschland, wo viele bereits Familienangehörige haben.
Nicht beachtete und „vergessene“ Kriege
Weitere kriegerische Auseinandersetzungen sind in der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt, so z.B. der Bürgerkrieg im Süden Kameruns. In der Regionalstelle in Tübingen suchen seit drei Jahren vermehrt Menschen aus Kamerun Hilfe. In dem zentralafrikanischen Staat stehen sich Separatisten und Sicherheitskräfte der Regierung in einem bewaffneten Konflikt gegenüber, der seine Wurzeln in der Zweisprachigkeit des Landes hat – und damit auch in seiner kolonialen Geschichte. Auch Kriege, die Jahrzehnte zurückliegen, sind Thema in den Räumen von Refugio Stuttgart. Ein offizielles Ende des Krieges bedeutet nicht unbedingt „Frieden“, sondern eine Zeit, die man als sehr fragil und brüchig und für bestimmte Gruppen weiterhin als extrem unsicher beschreiben muss. In Sri Lanka, wo der Krieg offiziell seit 2009 beendet ist, werden bis heute 146.000 Menschen vermisst. Und auch zehntausende Frauen, die während des Bosnienkriegs Anfang der 1990er Jahre vergewaltigt wurden, müssen bis heute mit dieser Erfahrung leben.
Mit den Folgen des Krieges leben
Die Behandlung schwerer Traumatisierungen braucht als erste Voraussetzung äußere Sicherheit. In unseren Beratungsstellen erfahren Betroffene Empathie und Verlässlichkeit. So kann mithilfe von Beratung und Therapie langsam wieder Vertrauen in menschliche Beziehungen und in das Leben wachsen. Dies ist die Voraussetzung dafür, wieder einen Alltag gestalten und einen Platz in der Gesellschaft finden zu können. Psychosoziale Beratung und Gruppenangebote helfen hierbei ebenso wie Psychotherapie. Klar ist aber auch, dass die Folgen von Krieg, Folter und Vergewaltigung lebenslang und zum Teil über Generationen fortwirken. Dieses Leid anzuerkennen und von ihm zu berichten, ist ebenfalls Aufgabe von Refugio Stuttgart e.V..
DOWNLOAD: Jahresrückblick 2023 mit Statistik
6. März 2024