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Offener Brief: Zeitraum für abgesenkte Sozial- und Gesundheitsleistungen für Asylsuchende (AsylbLG) darf nicht verlängert werden!
4. Januar 2024
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,
sehr geehrter Herr Bundesminister Heil,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
in großer Sorge um die Gesundheit schutzsuchender Menschen in Deutschland rufen wir Sie mit aller Dringlichkeit dazu auf: Stoppen Sie sofort das Vorhaben, den Zeitraum von 18 auf 36 Monate zu verlängern, in dem Asylsuchende nur Anspruch auf abgesenkte Sozial- und Gesundheitsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten sollen!
Seit es das Asylbewerberleistungsgesetz gibt – seit über 30 Jahren - bezeugen zivilgesellschaftliche Organisationen und Verbände in ihrer humanitären Arbeit die ernsten Folgen, die es für die Gesundheit geflüchteter Menschen hat, sie von notwendigen Sozialleistungen und insbesondere medizinischer Versorgung auszuschließen. Aktuell noch haben Asylsuchende in den ersten 18 Monaten lediglich Anspruch auf medizinische Versorgung bei akuten Schmerzen, Schwangerschaft und Geburt. Oft entscheidet medizinisch nicht geschultes Personal in den Sozialämtern, ob darüber hinaus Leistungen in Anspruch genommen werden können - zum Beispiel bei chronischen und psychischen Erkrankungen. Daneben haben Geflüchtete mit massiven Barrieren wie Diskriminierungen und Verständigungsproblemen zu kämpfen.
Die Bundesregierung wurde bereits mehrfach von den Vereinten Nationen dafür gerügt, dass Deutschland Asylsuchenden das Recht auf Gesundheitsversorgung verwehrt. Sie nun noch länger zu benachteiligen, ist menschenrechtswidrig und ignoriert die jüngste ausdrückliche Aufforderung des UN-Komitees zur Konvention gegen Rassismus (ICERD), die Ungleichbehandlung im Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen zu beenden (08.12.2023).
Auch das Bundesverfassungsgericht hat schon vor über zehn Jahren entschieden, dass die "Menschenwürde...migrationspolitisch nicht zu relativieren" ist. Der Versuch, die Flucht nach Deutschland zu begrenzen, indem man Geflüchteten den Zugang zu notwendiger Gesundheitsversorgung versagt, ist also nicht nur unwirksam (Sozial- und Gesundheitsleistungen als Pull-Faktor für Migration sind empirisch nicht belegt und wird von neuerer Migrationsforschung als unterkomplexe Theorie problematisiert[1]) und unmenschlich, sondern auch verfassungswidrig.
Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag den klaren politischen Willen geäußert, das Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiterzuentwickeln und den Zugang zu Gesundheitsversorgung für Asylsuchende zu vereinfachen. Das aktuelle Vorhaben läuft dieser Absicht massiv entgegen, würde sogar das Gegenteil bewirken.
Letztlich kommt eine Schlechterbehandlung bei der Gesundheitsversorgung ganzer Bevölkerungsgruppen die Gemeinschaft auch teuer zu stehen. Denn wenn Krankheiten chronifizieren oder zum Notfall werden, kosten sie das Gesundheitssystem mehr, als wenn man sie präventiv oder bei den ersten Symptomen behandelt.
Anstatt die Leistungen für Asylsuchende immer weiter zu kürzen, fordern die unterzeichnenden Organisationen deshalb:
- Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!
- Den Anspruch auf alle Gesundheitsleistungen aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen für Geflüchtete gesetzlich verankern
- Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte für Geflüchtete in allen Bundesländern
- Anspruch auf qualifizierte Sprachmittlung gesetzlich verankern
- EU-Aufnahmerichtlinie für besonders schutzbedürftige Geflüchtete flächendeckend und systematisch umsetzen
Wir bitten Sie, rechten Parolen und populistischen Hetzkampagnen gegen Migrant*innen und geflüchteten Menschen entschieden entgegenzustehen und unsere freiheitlich-demokratischen und menschen- und verfassungsrechtlichen Grundprinzipien mit Ihrer Politik zu verteidigen.
Gerne stehen wir für Rückfragen und zum persönlichen Austausch zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
- François De Keersmaeker, Direktor, Ärzte der Welt e.V.
- Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V.
- Gerhard Trabert, 1. Vorstandsvorsitzender, Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.
- Karl Kopp, Geschäftsführer, PRO ASYL e.V.
- Ulrike Schneck, Vorsitzende, & Lukas Welz, Geschäftsführung, BAfF
- Nicolay Büttner, Politische Arbeit und Advocacy, Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen
- Claudia Tamm, MediNetz Koblenz e.V.
- Birgit Naujoks, Geschäftsführerin, Flüchtlingsrat NRW e.V.
- Katrin Bahr, Geschäftsführende Vorständin, Condrobs e.V.
- Ute Hausmann, Vorstand, Refugio Stuttgart e.V.
- Sophia Wirsching, Geschäftsführerin, Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel – KOK V.
- Medinetz Gießen e.V.
- Elisabeth Helm & Almut Leiß, Vorstand, Förderverein des Brandenburgischen Flüchtlingsrates e. V.
- Timmo Scherenberg, Geschäftsführer Hessischer Flüchtlingsrat
- Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V.
- Martin Link, Geschäftsführer, Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
- med. Angelika Leist und Kollegen, Medinetz Karlsruhe
- Nele Wilk, Sozialarbeiterin, Clearingstelle Krankenversicherung Rheinland-Pfalz
- Kai Weber, Geschäftsführer, Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V
- Bundesverband Anonymer Behandlungsschein und Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherung (BACK)
- Johanna Schwarz, Medinetz Mainz e.V.
- Medinetz Bielefeld
- Christiane Bachelier, Co-Vorsitzende des Vereins demokratischer Ärzt*innen
- Lars Pohlmeier (Vorsitzender) für den Vorstand der IPPNW (Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzt*innen in sozialer Verantwortung) e. V.
- Jonah Lunnebach, Vorstand, MediNetzBonn e.V.
- Andrea Günther, Sozialarbeiterin, MedMobil – Ambulante Hilfe e.V. Stuttgart
- Lucia Braß und Bärbel Mauch für den Vorstand, Flüchtlingsrat Baden-Württemberg e. V.
- Medinetz Freiburg
- FRABS (Freiburger Anonymisierter Behandlungsschein) e.V.
- MediNetz Hannover e.V.
- Walter Schlecht, Kampagne für die Abschaffung des AsylbLG
- Elisa Cazzato, Vorstand Medinetz Marburg e.V.
- Community for all, Darmstadt
- Gesundheitskollektiv Berlin e.V
- Michaela Rosenbaum, Geschäftsführerin AWO Kreisverband Mülheim e. V.
- Maria Decker, Vorsitzende SOLWODI Deutschland e.V.
- Regina Begander, Bernadette Tusch, Institut für angewandte Kulturforschung, ifak. e.V. Göttingen
- Flüchtlingsrat Berlin e.V.
- Noah Peitzmann, Projektkoordinator, Anonymer Krankenschein Bonn e.V.
- Kölner Flüchtlingsrat e.V.
- Bayerischer Flüchtlingsrat
- Flüchtlingsrat RLP e.V.
- Saarländischer Flüchtlingsrat e.V.
- Torsten Jäger, Geschäftsführer, Initiativausschuss für Migrationspolitik in Rheinland-Pfalz.
- Flüchtlingshilfe Langenfeld e.V.
- med. Roland Fressle, erster Vorsitzender der Refudocs Freiburg e.V.
- Medibüro Berlin
- med. Gerhard Bonnekamp, MediNetz Essen
- Nanne Wienands, 2. Vorsitzende, Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Hof e. V.
- Udo Puteanus, VdPP-Vorstandsmitglied, Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten e.V.
[1] Siehe hierzu: Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags (2020): "Push- und Pull-Faktoren in der Migrationsforschung" sowie Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags (2023): Zum Zusammenhang von Sozialleistungen und Migration